Der Völkermord an den Êzîd*innen

31. Juli 2024  International
Geschrieben von Kreisverband

Grafik: Rosa-Luxemburg-Stiftung

Der Genozid des IS an den irakischen Êzîd*innen und deren Rettung durch die Einheiten der demokratischen Selbstverwaltung Nordsyriens thematisiert die 17. Folge von dis:arm, dem friedenspolitischen Podcast der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS).

Islamist*innen morden

Am 3. August 2014 überfiel der „Islamische Staat im Irak und Syrien“ (IS) die irakische Region Shingal/Sindschar, in der vor allem Êzîd*innen wohnten. Sie pflegen einen kurdischen Lebensstil, haben jedoch eine eigene Religion. Jihan Alomar, die bei Überfall des IS zehn Jahre alt war, erinnerte sich: „Nachts um 3 Uhr wurden wir von den Bomben geweckt – meine Familie und ich verließen unseren Bauernhof, um in die Berge zu fliehen.“ Als sie dennoch vom IS gefangen genommen wurden, war dies das letzte Mal, dass sie ihren Bruder und den Vater lebend sah.

Vergewaltigung und Versklavung

„Ich wünschte mir, zu sterben, um diese schlimmen Dinge nicht mehr mitzuerleben“, beschrieb sie die zehnwöchige Gefangenschaft bei den Islamist*innen. Junge Frauen wurden vergewaltigt, Jungen zu Kindersoldaten ausgebildet. „Man hat gesehen, wie andere ermordet wurden“, gab Alomar den Alltag wieder. Bei dem Angriff auf Shingal wurden bis zu 10.000 Männer ermordet und 7.000 Frauen entführt, systematisch vergewaltigt und versklavt. 2023 erkannte der Deutsche Bundestag die Geschehnisse als einen Genozid an.

Die kurdische Autonomiebehörde

Als der Überfall des IS auf das Gebiet absehbar wurde, rief Abdullah Öcalan, der in den 70er Jahren die Arbeiter*innenpartei Kudistans (PKK) gegründet hatte, aus seiner türkischen Haft alle kurdischen Milizen dazu auf, die Êzîd*innen und christliche Armenier*innen dort zu schützen. Denn im Nordirak hat sich seit 2003 die konservative kurdische Autonomiebehörde unter der Familie Barzani etabliert. Dem Clan gehören bis zu 80 Prozent der dortigen Wirtschaft, Korruption ist ein ebenso großes Problem wie die Kluft zwischen Arm und Reich. Die kurdische Miliz im Nordirak sind die Peschmerga.

Die Selbstverwaltung Nordsyriens

Nachdem es im Zuge des Arabischen Frühlings auch in Syrien zu Protesten und dem Bürgerkrieg zwischen Präsident Baschar al-Assad und den Rebellen kam, riefen kurdische Gruppen 2012 im nordsyrischen Kobanê die Revolution von Rojava aus. Zentrale Politikelemente der demokratischen Selbstverwaltung Nordsyriens sind Gleichheit der Geschlechter, Demokratie und Ökologie. So werden alle Ämter paritätisch mit einer Frau und einem Mann besetzt. In den Syrian Democratic Forces (SDF) sind kurdische, aramäische und arabische Volksverteidigungseinheiten zusammengeschlossen.

SDF und PKK helfen

Eigentlich gaben Barzanis Peschmerga vor, die êzîdische Zivilbevölkerung vor den Islamist*innen zu schützen, flohen jedoch bei deren Ankunft. „Einheiten der SDF und der PKK kämpften einen Rettungskorridor in die Berge frei, um die Êzîd*innen nach Syrien evakuieren zu können“, erläuterte Jan van Aken das darauf folgende Geschehen. So fände man auf den Friedhöfen von Kobanê noch tausende Gräber junger Menschen, die im Kampf gegen die Islamist*innen gefallen waren. Doch seitens der EU wird die PKK als Terrororganisation gesehen.

Nobelpreis für Êzîdin

Eine, die vom Vorgehen der islamistischen Terrororganisation IS berichtete, war Nadi Murad. Sechs Brüder und ihre Mutter wurden ermordet, sie selbst versklavt. Nach ihrer erfolgreichen Flucht in den Nordirak sprach sie im Dezember 2015 vor dem UN-Sicherheitsrat über ihre Erlebnisse und erhielt 2018 den Friedensnobelpreis. Murad lebt mittlerweile in Baden-Württemberg, setzt sich für die psychologische Betreuung traumatisierter Menschen und die strafrechtliche Verfolgung von IS-Kämpfern ein.

Urteile erwünscht

Nachdem die SDF gemeinsam mit der Freien Syrischen Armee die besetzten Gebiete, darunter auch die IS-Hochburg Raqqa, befreit hatten, musste die demokratische Selbstverwaltung Nordsyriens tausende IS-Kämpfer in Militärgefängnissen sowie zehntausender Familienangehöriger in Camps – etwa al-Haul – internieren. Die Selbstverwaltung fordert ein internationales Tribunal, um die islamistischen Gefangenen nach rechtsstaatlichen Prinzipien abzuurteilen. „Das würde dazu führen, dass die Selbstverwaltung international anerkannt und nicht mehr Teil der Arabischen Republik Syriens ist“, erläuterte van Aken, RLS-Referent für internationale Konflikte, die möglichen Folgen.

Europa gegen Rechtsstaatlichkeit

Dies ist jedoch nicht möglich, da völkerrechtlich die syrische Zentralregierung in Damaskus für die gefangenen IS-Terroristen zuständig sei. Auch ein vom UN-Sicherheitsrat initiiertes Tribunal scheidet wegen der Veto-Mächte aus. Eine letzte Möglichkeit könnte ein Tribunal sein, dass unabhängig vom Sicherheitsrat von nationalen Staaten in einem benachbarten Land organisiert würde. „Bis Juli 2024 ist nur ein einziger deutscher IS-Kämpfer von der Bundesrepublik nach Deutschland zurückgeholt worden“, ging die Journalistin Linda Peikert auf das Vorgehen der jeweiligen Heimatländer ein. Auch in Italien, Bosnien oder Finnland sei die Quote ähnlich gering – und das, obwohl tausende Europäer*innen für den IS in den Kampf gezogen waren.

Der IS und die Türkei

2022 war es im al-Sina’a-Gefängnis in al-Hasaka zu einem Angriff von IS-Anhängern gekommen, der den Insassen die Flucht ermöglichte. Bei den anschließenden Kämpfen in der Stadt sollen 120 Justizangestellte und Zivilist*innen sowie 374 IS-Anhänger*innen getötet worden sein. Im Camp al-Haul sind über 40.000 Angehörige des IS aus 44 verschiedenen Ländern interniert. „Jeden Monat werden dort bis zu 60 Kinder geboren, die Jungen sollen zu radikalen Islamisten erzogen werden“, berichtete Peikert über ihre Recherchen. Die meisten stammten aus Syrien oder dem Irak, aber auch 7.000 Menschen aus Drittstaaten wie Deutschland. „Mit Geld aus türkischen Gebieten werden Ausbruchsversuche finanziert“, ging sie auf die Rolle des NATO-Partners ein, der zeitgleich einen Krieg gegen die kurdische Selbstverwaltung in Nordsyrien führt.

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